Grundprinzipien der Inferenzstatistik am Beispiel der
Binomialverteilung Gehen wir von einer konkreten Stichprobe aus: Es wurde 20-mal hintereinander gewürfelt und dabei 10-mal eine sechs erzielt. Die 20 Würfe sind die Stichprobe eines Bernoulli-Prozesses. Zur Erinnerung: Ein Bernoulli-Prozess ist ein Experiment mit zwei möglichen Ausgängen (Erfolg und Misserfolg). Nun habe unsere empirisch erhobene Stichprobe ein Ergebnis von 10-mal Erfolg bei 20 Bernoulli-Versuchen erbracht. Dies ist nur ein mögliches Ergebnis. Prinzipiell können bei 20 Versuchen insgesamt 21 verschiedene mögliche Stichprobenergebnisse vorkommen. Diese sind: 0-mal Erfolg bei 20 Würfen; 1-mal Erfolg usw. bis 20-mal Erfolg. Was wir als nächstes für unser inferenzstatistisches Schließen benötigen, ist eine Hypothese. Gehen wir fürs erste von der rein hypothetischen Annahme aus, in "Wahrheit" sei die Wahrscheinlichkeit für Erfolg (= eine sechs zu würfeln) 1/6. Die Wahrscheinlichkeit für Misserfolg ergibt sich daraus implizit - sie beträgt 5/6. Dies ist zunächst nur eine hypothetische Annahme. Diese Annahme wurde im einführenden Teil als die Unschuldsbehauptung bezeichnet. In der Inferenzstatistik bezeichnet man die Unschuldsbehauptung als so genannte Nullhypothese. Grundsätzlich sind drei Begriffe zu unterscheiden: die Stichprobe, die Stichprobenkennwertverteilung (dies ist die Verteilung der Wahrscheinlichkeiten für die verschiedenen Stichprobenergebnisse; im Falle der Binomialverteilung die Wahrscheinlichkeiten für die verschiedenen k's) und die Grundgesamtheit (=Population). Die Grundgesamtheit ist das Ergebnis (= der Ausgang) aller möglicher Bernoulli-Versuche mit einem Würfel, wobei wir nur an den beiden Ausgängen Erfolg oder nicht Erfolg interessiert sind. Würden alle Ergebnisse von vornherein feststehen, bzw. würden wir die Population bereits kennen, so benötigten wir keine Inferenzstatistik. Was ist nun die Stichprobe? Die Stichprobe besteht aus den 20 Bernoulli-Versuchen. Die Stichprobenkennwerteverteilung wiederum besteht aus den Wahrscheinlichkeiten für die 21 verschiedenen möglichen Stichprobenergebnisse: 0 gewürfelte Sechser bei 20 Versuchen, 1 Sechser bis zu 20 Sechser bei 20 Versuchen. Die Wahrscheinlichkeiten werden mit der Wahrscheinlichkeitsfunktion der Binomialverteilung ermittelt. Die zentrale
Frage, die sich nun stellt, ist die folgende: Inwiefern lässt sich
unsere hypothetische Annahme, dass nämlich
die Wahrscheinlichkeit für Erfolg
1/6 ist, durch unsere empirische Stichprobe bestätigen? Anders formuliert: Inwiefern verträgt sich unser empirisch ermitteltes Stichprobenergebnis - Würfeln von 10 6ern bei insgesamt 20 Versuchen - mit unserer Hypothese? Unserer Hypothese zufolge handelt es sich bei dem Würfel um einen 'fairen' Würfel - die Wahrscheinlichkeit, eine sechs zu bekommen beträgt dieser Hypothese zufolge also 1/6! Überlegen wir uns diese Frage an zwei Beispielen: Wenn wir statt 10 6ern nur 3 bekommen hätten, wie verträgt sich dieses Ergebnis mit unserer Theorie? Wie groß wäre die Wahrscheinlichkeit 3-mal eine sechs zu bekommen bei 20 Versuchen? Aufgrund der Wahrscheinlichkeitsfunktion der Binomialverteilung können wir dafür die Wahrscheinlichkeit berechnen. Diese ist Zweites Beispiel: Wie groß wäre die Wahrscheinlichkeit, 4-mal bei 20 Würfen eine sechs zu bekommen? Diese ist Hätten wir aufgrund von 3 oder 4maligem Würfeln einer sechs also Anlass, an der Unschuldsbehauptung zu zweifeln? Nachdem die Wahrscheinlichkeiten dieser Ergebnisse in der Stichprobenverteilung relativ hoch sind, hätten wir aufgrund dieser Ergebnisse wenig Anlass, an der Unschuldsbehauptung zu zweifeln. Betrachten wir nun aber unseren konkreten Fall: Bei 20maligem Würfeln 10-mal eine sechs zu bekommen. Die Wahrscheinlichkeit dafür berechnet sich nach der Formel:
Nun spricht die Wahrscheinlichkeit dieses Ergebnis nicht gerade dafür, dass die Nullhypothese zutrifft. Unser empirisch ermittelter Befund scheint nicht die Unschuldsbehauptung zu stützen. Wir können aber aufgrund dieses Ergebnisses umgekehrt auch nicht völlig sicher sein, dass die Nullhypothese falsch ist. Das erzielte Ergebnis ist zwar unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich. Aufgrund welcher Kriterien können wir daher behaupten, dass die Nullhypothese falsch ist? Da das beobachtete Ergebnis zwar unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich ist, gehen wir in jedem Falle ein Risiko ein, wenn wir die Nullhypothese verwerfen. Wie können wir dieses Risiko möglichst gering halten? Dazu müssen wir die Wahrscheinlichkeit wissen fälschlicherweise die Nullhypothese zu verwerfen. Diese Wahrscheinlichkeit finden wir über die Überschreitungswahrscheinlichkeit. Dazu folgende Überlegung: Angenommen, wir entscheiden uns aufgrund der geringen Wahrscheinlichkeit dieses Ergebnisses gegen die Nullhypothese. Angenommen, wir sagen, 10-mal eine sechs bei 20 Versuchen ist zu unwahrscheinlich. Würden wir im Falle einer derartigen Entscheidung das Werfen von 11 6ern akzeptieren? Die Antwort darauf ist ein klares Nein, denn wenn 10 zu viel sind, dann wären auch 11, 12, 13, 14 bis zu 20-mal zu viel. In all diesen Fällen würden wir also die Nullhypothese verwerfen. Wir kommen hier zu einem wichtigen Punkt der Inferenzstatistik: Man kann nicht 10-mal Würfeln einer sechs als zu unwahrscheinlich verwerfen und dann aber 11-mal Würfeln akzeptieren. Nachdem aber 10-mal und mehr verworfen wird, müssen wir die Überschreitungswahrscheinlichkeit berechnen. Dies ist die Gesamtwahrscheinlichkeit, 10mal, 11mal bis zu 20mal eine 6 zu bekommen. Betrachten wir dazu die Ergebnisse der Binomialverteilung: k = 10 -> P = 0,00049 k = 11 -> P = 0,000089 k = 12 -> P = 0,000013 k = 13 -> P = 0,000001 k = 14 -> P = 0,0000001 k = 15 -> P = praktisch 0 k = 16 -> P = praktisch 0 k = 17 -> P = praktisch 0 k = 18 -> P = praktisch 0 k = 19 -> P = praktisch 0 k = 20 -> P = praktisch 0 Dies ergibt in der Summe eine Überschreitungswahrscheinlichkeit von ca. 0,001! Das bedeutet: Das Risiko, fälschlicherweise die Nullhypothese (dass unser Würfel fair ist bzw. dass p=1/6) bei 10-maligem Werfen der Augenzahl 6 zu verwerfen, tritt mit einer Wahrscheinlichkeit von 0,001 auf. Das bedeutet weiterhin: Ein Stichprobenergebnis von 10 oder mehr Sechsern liefert wenig Evidenz für unsere Hypothese. Nochmals anders formuliert: Unter der Voraussetzung der Nullhypothese ist das Ergebnis unserer empirischen Stichprobe sehr unwahrscheinlich. Wie wir bereits wissen, lässt sich die Überschreitungswahrscheinlichkeit auch angenähert über die z-Transformation berechnen. Dies allerdings nur unter der Voraussetzung, dass unser n hinreichend groß ist – was bei 20 Versuchen nicht der Fall ist. Obwohl diese Bedingung bei 20 Versuchen also nicht gegeben ist, versuchen wir allein aus Demonstrationszwecken und zur Gegenüberstellung zur oben verwendeten Berechnungsart im folgenden mit Hilfe der Approximation an eine Normalverteilung die Wahrscheinlichkeit berechnen, 10 mal oder mehr eine 6 zu bekommen. Fragen wir zunächst nach der Wahrscheinlichkeit, bis zu 10-mal eine sechs zu bekommen. Da 10 in diesem Falle als Klassenmitte einer kontinuierlichen Variablen aufgefasst wird, beginnt deren Klassenuntergrenze tatsächlich bei 9,5. Um dann die Wahrscheinlichkeit 10 mal oder mehr eine 6 zu bekommen zu erhalten, müssen wir die Wahrscheinlichkeit von -unendlich bis 9,5 berechnen und die erhaltene Wahrscheinlichkeit dann von 1 subtrahieren. Mit Hilfe der z-Transformation erhalten wir: , Aufgrund der z-Tabelle ergibt sich daraus eine Wahrscheinlichkeit von: 0,9999 Die Überschreitungswahrscheinlichkeit (die Wahrscheinlichkeit 10-mal oder mehr eine 6 zu bekommen) liegt daher bei 1 – 0,999, also bei 0,000000... Das Risiko, die Nullhypothese zu verwerfen, ist demnach sehr klein. Was jetzt noch offen geblieben ist, ist die Frage, ab welcher Überschreitungswahrscheinlichkeit wir die Nullhypothese verwerfen sollen. Diese muss so gewählt werden, dass das Risiko, die Nullhypothese fälschlicherweise zu verwerfen, möglichst klein gehalten wird. In den Sozialwissenschaften hat sich dabei folgende Konvention ergeben: Ist die Überschreitungswahrscheinlichkeit für die Nullhypothese kleiner als 0,05, so entscheidet man sich gegen die Nullhypothese. Man bezeichnet diese Schwelle auch als Signifikanzniveau. Man geht dabei von der Überlegung aus, dass ein derart empirisch erhobener Befund unter Voraussetzung der Nullhypothese grundsätzlich zwar möglich, aber eben doch sehr unwahrscheinlich ist. In Bezug auf unsere konkrete Nullhypothese, dass nämlich unser Würfel ein fairer Würfel ist, können wir nun folgende Entscheidungsregeln festhalten: H0: π = 1/6 H1: π > 1/6 (die Wahrscheinlichkeit für "6" ist größer als 1/6) H1 bezeichnet man auch als Alternativhypothese. Ergibt sich aufgrund der Binomialverteilung eine Überschreitungswahrscheinlichkeit kleiner gleich 0,05, so entscheidet man sich gegen die Nullhypothese. Anders formuliert: Aufgrund einer derart kleinen Irrtumswahrscheinlichkeit kann die Nullhypothese nicht weiter aufrecht gehalten werden. Entscheidet man sich gegen die Nullhypothese, so spricht man auch von einem signifikanten Ergebnis. |